LAPPconnect: Flutkatastrophen, Waldbrände, schmelzende Polkappen: Der Klimawandel ist für alle spürbar. Was ist jetzt zu tun?
Jörg Klasen: Der Klimaschutz und die Verringerung der Treibhausgase sind eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Viele bedeutende Industrieländer und die Europäische Union haben sich verpflichtet, bis zur Mitte dieses Jahrhunderts klimaneutral zu werden. Weitere Länder werden folgen und ihre Ziele bis zur UN-Klimakonferenz COP26 in Glasgow im November 2021 anpassen beziehungsweise konkretisieren. Zur Erreichung dieser Ziele werden jedoch enorme Anstrengungen von den einzelnen Ländern in allen Sektoren erforderlich sein, neben der Dekarbonisierung der Industrie und dem Verkehr vor allem in der Strom- und Wärmeerzeugung. Wir müssen noch mehr Energie aus erneuerbaren Quellen wie Wind und Photovoltaik oder wo möglich auch durch konzentrierte Solarenergie (CSP) erzeugen und auf die Verbrennung fossiler Brennstoffe weitestgehend verzichten.
Ist das Tempo beim Ausbau der erneuerbaren Energien dafür ausreichend?
Laut der Renewable Capacity Statistics 2021 der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien (IRENA) stieg die weltweite Erzeugungskapazität aus erneuerbaren Energien im Jahr 2020 um 10,3 % auf 261 Gigawatt, was 82 % des gesamten Nettokapazitätszuwachses entspricht. Innerhalb der erneuerbaren Energien entfielen 91 % der neuen Kapazität auf neue Wind- und Solarkraftwerke. Ich gehe davon aus, dass sich dieser Ausbau rund um den Globus auf hohem Niveau fortsetzen wird. Neue Technologien wie Wasserstoff werden zusätzlich eine wesentliche Rolle bei der Speicherung oder dem Ausgleich von schwankenden erneuerbaren Energien spielen und somit den Umbau auf eine CO2-freie Energieversorgung unterstützen. Um die genannten ambitionierten Klimaziele auf nationaler Ebene zu erreichen, muss das Tempo jedoch hochgehalten, wenn nicht sogar erhöht werden.
Und trotzdem steigen die CO2-Emissionen weltweit weiter. Wie passt das zusammen?
Der Umbau der fossilen Gesellschaft und Industrie auf CO2-Neutralität beziehungsweise CO2-Freiheit kann nicht in kurzer Zeit realisiert werden. Viele aufstrebende Länder haben eine stark wachsende Nachfrage nach Energie, und wenn Kohle das Rückgrat in der Stromerzeugung ist, werden die CO2-Emissionen dort vorerst weiter zunehmen. Aber es gehört zur Verantwortung der führenden Industrienationen, diese Länder dabei zu unterstützen, bereits frühzeitig die Möglichkeiten von erneuerbarer Energie und die Schonung von Ressourcen durch eine funktionierende Kreislaufwirtschaft zu erkennen und wirtschaftlich zu nutzen.
Als Hersteller von Kabeln und Leitungen ist LAPP auch im Energiemarkt tätig. Zugleich sind wir selbst Energieverbraucher. Welche Trends sehen Sie, die für Industrieunternehmen relevant sind?
Beim Thema Klimawandel sind alle Sektoren gefordert. Für Unternehmen sehe ich vor allem drei Trends: Erstens werden Kunden zunehmend auf die Beschaffung von klimaneutralen Produkten und Dienstleistungen pochen. Porsche will zum Beispiel ab 2030 nur noch CO2-neutral einkaufen. Das bedeutet, dass Lieferanten wie LAPP ihre Produkte klimaneutral herstellen müssen. Das umfasst die in der Produktion verarbeiteten Materialien, die Herstellverfahren sowie die beschaffte Energie.
Und auch die Mitarbeiter von LAPP …?
Selbstverständlich. Auch die CO2-Bilanz der Mitarbeiter bei der Arbeit und auf dem Weg zum oder vom Arbeitsplatz wird mit eingerechnet. Der Umstieg der Mitarbeitenden auf öffentlichen Nahverkehr, auf E-Autos und das Fahrrad wirken sich CO2-reduzierend auf die Gesamtbilanz aus.
Ein zweiter Trend, wo LAPP, wie ich höre, auch sehr aktiv ist, ist die schnelle und flexible Logistik durch integrierte Lieferketten. Warum das wichtig ist, haben wir jüngst bei den Flutkatastrophen gesehen. Wenn Strom- und Datenleitungen zerstört sind, müssen Anbieter wie LAPP schnell und in den benötigten Mengen neue Kabel und Komponenten liefern können. Und drittens geht es um mehr Intelligenz in den Produkten für eine höhere Effizienz. Hier sind Initiativen zu nennen wie das „Intelligente Kabel“, das Daten in Echtzeit sammelt und bereitstellt, etwa für die vorausschauende Wartung – Stichwort: predictive maintenance.
Mehr Erneuerbare – das hat vor allem Auswirkungen auf die Netze. Was kommt auf die Netzbetreiber zu?
Die europäischen Betreiber von Übertragungsnetzen und Verteilnetzen sind stark von der Wachstumsdynamik der Energiewende betroffen und stehen vor großen Unsicherheiten. Es gibt für sie drei große strategische Herausforderungen: Erstens eine Knappheit der Netzkapazitäten. Die Nachfrage nach neuen Anschlüssen übersteigt teils sehr deutlich die Kapazitäten der Übertragungs- und Verteilnetzbetreiber, was zu immer längeren Wartezeiten bei Neuanschlüssen und zunehmenden Engpässen im Netz führt. Zweitens gibt es eine Unsicherheit in Bezug auf künftige Energielösungen und die Auswirkung der Regulierung, etwa bei Wasserstoff. Drittens haben die Netzbetreiber nur einen begrenzten finanziellen Spielraum. Netzbetreiber müssen solide finanziert sein; bei regulierten Geschäften wird ein Single-A-Rating von den Kapitalgebern erwartet.
Aber trotzdem müssen die Betreiber ihre Netze fit für die Zukunft machen. Worauf sollen sie achten?
Bislang reichte es aus, das Netz zuverlässig und kostengünstig zu betreiben. Jetzt kommen zusätzliche Themen wie Sicherheit, Resilienz, Flexibilität und Nachhaltigkeit hinzu. Sicherheit bedeutet, dass man das Netz und seinen Betrieb vor Bedrohungen und Angriffen von außen und innen schützt, auch gegen Cyberangriffe. Resilienz erfordert ein professionelles Krisenmanagement bei Störfällen und schnelles Wiederherstellen bei Schäden. Die Flexibilität im physischen Netz betrifft die Integration dezentraler Energiesysteme wie erneuerbare Energien, steuerbare Lasten wie E-Fahrzeuge oder Speicher. Nachhaltigkeit schließlich bedeutet für die Netzbetreiber, dass sie ihre Kunden dabei unterstützen müssen, ihre Verpflichtungen und Ziele in Bezug auf erneuerbare Energien und Dekarbonisierung zu erreichen, etwa durch den zügigen Anschluss von neuen Wind- und PV-Anlagen, oder dass sie selber in Zukunft CO2-neutrale Materialien in ihren Netzen einbauen.
Die Digitalisierung dürfte dabei eine Schlüsselrolle spielen …
Ja, die Digitalisierung ist wichtig, um die bestehenden Netze besser ausnutzen zu können und unnötigen Netzausbau zu vermeiden. Strom sucht sich immer den Weg des geringsten Widerstandes. Auf diese Weise regulieren sich die Netze selbst. Wird jedoch die Last an einzelnen Stellen zu hoch, wird die Leitung, insbesondere das Kabel, durch die thermische Belastung beschädigt, was zu einem direkten Ausfall oder zu einer verkürzten Lebensdauer führt. Erzeugung und Verbrauch von Energie waren früher leicht vorhersehbar, das ist heute nicht mehr so. Deshalb benötigt der Netzbetreiber Informationen über den Netzzustand und die Lastflüsse. Mit zunehmender dezentraler Stromerzeugung durch Wind- und PV-Anlagen in ländlichen Gebieten sowie Solardächern in Wohngebieten entstehen mehr Engpässe. Hat der Netzbetreiber an vielen relevanten Stellen im Netz den Zugriff auf Daten und Informationen, kann er diese Engpässe schnell erkennen und gegensteuern. Viele Netzbetreiber arbeiten derzeit an der Implementierung eines digitalen Zwillings, der das physische Netz digital abbildet und neben der Steuerung auch andere Funktionalitäten wie digitale Netzplanung, Simulationen oder Automatisierung ermöglicht.
Blick in die Zukunft: Was verändert sich, wenn der Anteil der erneuerbaren Energien größer wird?
Mit einem Zubau von erneuerbaren Energien werden auf lange Sicht fossile Energien weitestgehend, wenn nicht sogar vollständig verdrängt. Einer der wesentlichen Treiber dafür ist der Klimaschutz und die Reduzierung der CO2-Emissionen. Der Sektor, in dem wir das zuerst sehen, ist die Strom- und Wärmeerzeugung, aber es ist bereits heute erkennbar, dass andere Sektoren auf die Verbrennung fossiler Energien, wie etwa im Verkehr langfristig verzichten werden. Nach dem Umbau des Energiesystems werden die Karten neu gemischt. Aber Themen wie der CO2-Fußabdruck bei der Herstellung und die Ressourcenschonung durch Recycling werden bleiben.