Als Berater, der Firmen dabei hilft, sich kulturell an die neue Arbeitswelt anzupassen, habe ich jedoch die Erfahrung gemacht, dass ein familiär geführter Mittelständler meist sehr viel mehr Lean-Start-up-Kultur oder Design Thinking in sich trägt als die meisten großen Konzerne. Und dass der Mittelstand dabei sogar einige Tugenden beherrscht, von denen selbst die Start-up-Welt noch etwas lernen könnte. Vor diesem Hintergrund würde ich behaupten, dass der klassische deutsche Mittelstand ein größeres Potenzial besitzt, die nächste disruptive Innovation zu entwickeln, als ein DAX-50-Unternehmen. Wie das?
Beobachtung eins: Unternehmergeist
Im Mittelstand und gerade in Familienunternehmen gibt es meiner Erfahrung nach mehr Unternehmertypen, die über das aktuelle Quartal und ihre Abteilungsgrenze hinausschauen. Hier höre ich viel häufiger einen Satz wie „Okay, dann machen wir das jetzt so!“ als im Konzern. Dort heißt es eher: „Okay, ich versuche das mal mit der Rechtsabteilung/ Finanzabteilung / etc. zu klären.“ Diese Unternehmermentalität kann ich selbst bei großen Mittelständlern mit mehreren tausend Mitarbeitenden und entsprechenden Organisationsstrukturen spüren. Was bei Gründern von Start-ups das „Entrepreneurship“ ist, finde ich bei Mittelständlern häufig in Form von „Intrapreneurship“ wieder.
Beobachtung zwei: Schlanke Prozesse
Mittelständler haben in der Regel weniger stark definierte Prozesse als Großkonzerne. Im Hinblick auf Innovationsentwicklung ist das von Vorteil. Denn dadurch hat der Einzelne mehr Entscheidungsspielraum und verhält sich im besten Falle verantwortlich für das Gesamtergebnis, statt sich hinter komplizierten Prozessen zu verstecken.
Wenn etwa eine überraschende neue Idee nicht klar durch den Projektauftrag abgedeckt ist, verfolgen bei Mittelständlern einzelne Köpfe solche Ideen eher auch mal ohne Kostenstelle weiter, also quasi im U-Boot-Modus, solange sie die Richtung für vielversprechend erachten. Die Ergebnisse dieser Hacks des Systems rechtfertigen dann im Nachhinein die Vorgehensweise. Eine typische Aussage hierfür lautet: „Wenn das Ergebnis spannend ist, fragt im Nachhinein niemand mehr nach dem Prozess.“ So etwas erlebe ich in Großkonzernen aufgrund der starken Reglementierung eher seltener.
Im Vergleich mit Start-ups wiederum hat der Mittelständler meist ausgefeiltere Prozesse für Standardprozeduren wie Qualitätssicherung oder interne Dienstleistungen wie Personal- und Rechnungswesen. Dass viele Start-ups nicht am Konzept, sondern am Team und an inadäquaten Prozessen während der schnellen Wachstumsphase scheitern, hört man häufiger von Investoren.
Beobachtung drei: Kundennähe
Direkten Kontakt mit den Kund:innen haben in großen Konzernen oft prozentual weniger Menschen als in kleineren Unternehmungen. Was im Konzern in der Regel arbeitsteilig zum Beispiel durch Marktforschungsabteilungen erledigt wird, muss in einer kleineren Organisation vielleicht der:die Vertriebler:in oder der:die Entwickler:in „nebenbei“ herausfinden. Diese direkte Kund:inneninteraktion ist aber gerade im Rahmen der Innovationsentwicklung sehr wertvoll. Erfolgreiche Start-ups erarbeiten sich ihre Marktchance häufig über bisher unbediente Kund:innenbedürfnisse und entwickeln co-kreativ mit ihren Kund:innen neue Lösungen. Das Problem des Start-ups ist es aber häufig, überhaupt die richtigen Kund:innen zu finden. Der Mittelständler kann hier im Idealfall auf seine langjährigen Beziehungen zurückgreifen. Ich habe schon erlebt, dass ein Entwicklungsingenieur eines Maschinenbauunternehmens einfach kurz zum Telefon griff, als es darum ging, eine gemeinsame Entwicklungssession mit Kund:innen zu organisieren. Eine Woche später haben wir dann alle völlig offen in einer co-kreativen Sitzung passgenaue neue Lösungen entwickelt.
Beobachtung vier: Kultur des Ausprobierens
Häufig gilt in Konzernen die Maxime „Fehler sind keine Option!“. Ohne Versuch und Irrtum aber gibt es kein Lernen, keine neuen Erkenntnisse und erst recht keine Innovation. Doch experimentierfreudige Mitarbeitende stoßen hier häufig auf absurde Barrieren. Beispielsweise wollte ein großer deutscher Automobilbauer nach einem Training bei uns in der Entwicklungsabteilung Pappe als Material für die Prototypenentwicklung einsetzen, weil sie günstiger ist und man viel schneller mit einer Papptür experimentieren kann als mit einer extra aus Metall hergestellten Test-Tür. Es folgte ein sofortiges Pappverbot vom Abteilungsleiter, da Pappe nicht die Qualität der Marke widerspiegle. Erst als die Kolleg:innen ihrem Chef vorrechneten, dass sie mit Pappe mehrere Wochen Entwicklung durch wenige Tagen ersetzen könnten und die Einsparungen dabei fünfstellig seien, einigte man sich auf den Kompromiss: Pappe wäre von nun an erlaubt, wenn sie in einem warnenden Orange lackiert und damit als Experiment markiert würde.
In mittelständischen Unternehmen finde ich öfter eine Kultur des Ausprobierens vor, die auch jenseits der Forschungsabteilungen gelebt wird. Ihre bereits erwähnten schlankeren Prozesse, größere Kund:innennähe und stärkere Eigenverantwortung erleichtern Experimente und befähigen sie dazu, Entwicklungen schneller, kostengünstiger und passgenauer auf den Markt zu bringen als viele große Unternehmen. Für Start-ups ist das Ausprobieren geradezu überlebenswichtig. Häufig verändern sie ihre ursprüngliche Ausrichtung mehrfach, bevor sich der gewünschte „Market Fit“ einstellt.
Wenn es um die Innovationsfähigkeit deutscher Unternehmen geht, frage ich mich angesichts dieser Beobachtungen, ob ein Großkonzern, der mit klassischen Mitteln versucht, Start-ups zu imitieren, jemals besser sein kann als das Original. Beim Mittelstand hingegen sehe ich die Chance, sowieso schon gelebte Start-up-Kultur mit klassischen deutschen Unternehmertugenden zu etwas Neuem zu verbinden, das mehr ist als eine Kopie des Silicon Valley. Zugegeben, ein kreativer Außenposten in Berlin statt Braunschweig könnte auch dem innovativen Mittelstand nicht schaden.
Über den Autor
Simon Blake ist einer der führenden Experten und Berater in Deutschland für agile Innovationskultur. Als Mitgründer und Co-Geschäftsführer der launchlabs hilft er etablierten Unternehmen dabei, „Innovation Ownership“ zu entwickeln, das heißt Fähigkeiten und Strukturen so zu entwickeln, dass Innovation und Tagesgeschäft von der Organisation Gleichmut beherrscht werden. Davor war er maßgeblich am Aufbau der School of Design Thinking am Hasso-Plattner-Institut beteiligt.